Stadt Dortmund vergisst 600.000 € für den Radverkehr
Man möchte ja positiv berichten. Aber sie machen es einem wirklich nicht leicht in Dortmund.
Für den Haushalt 2016 vorgesehen waren 200.000 € als reguläre Mittel für den Radverkehr. Das sind 34 Cent pro Kopf, also noch nicht einmal fünf Prozent dessen, was der Nationale Radverkehrsplan für die schlechteste Städtekategorie als absolutes Minimum vorsieht (8€ pro Kopf). Dass das nicht genug war, sah man selbst in Dortmund ein, und so beschloss der Rat während der Haushaltsberatungen für das Jahr 2016 am 10.12.2015 auf Antrag der Grünen eine Aufstockung:
Der Rat stellt fest, dass eine Aufstockung der Mittel für die Verbesserung der Radverkehrsinfrastruktur in Höhe von 600.000 € erforderlich ist. Damit soll der Radverkehr eine entsprechende Beachtung in allen verkehrstechnischen Planungen der Stadt erhalten, um die Ziele der fahrradfreundlichen Stadt mit mindestens 10 % Radverkehrsanteil zu erreichen. Die Verwaltung wird beauftragt, dem Ausschuss für Umwelt, Stadtgestaltung und Wohnen (AUSW) bis Ende März 2016 geeignete Maßnahmen vorzuschlagen. Wenn sich im Laufe der Bewirtschaftung des Haushaltsjahres 2016 herausstellen sollte, dass die investiven Mittel zur Verbesserung der Radverkehrsinfrastruktur fehlen sollen, wird die Verwaltung beauftragt, im Rahmen von überplanmäßigen Mittelverlagerungen diesen Ansatz zu verstärken.
Immerhin. Ein Euro und zwei Cent pro Kopf sind zwar ein lächerlich geringer Betrag und reichen nicht annähernd aus, um die extreme Unterfinanzierung des Radverkehrs zu beheben. Selbst der eher sparsame Nationale Radverkehrsplan empfiehlt Einsteiger-Kommunen wie Dortmund acht bis achtzehn Euro. In Ländern, die bei der Förderung des Radverkehrs erfolgreich sind, werden jährlich zwanzig bis dreißig Euro pro Kopf investiert. Ambitionierte Städte wie Utrecht nehmen sogar 137 Euro pro Kopf in die Hand.1 Aber wir sind nicht in einer ambitionierten Stadt, sondern in Dortmund. Und da wird man eben bescheiden. Wenn man sieht, dass die übrigen Mittel für den Radverkehr 2016 nur bei 34 Cent pro Kopf liegen, sagt man auch zu einem Euro und zwei Cent: Besser als nichts. Man hätte zwar fragen können, warum die Mittel nicht ordentlich in den Haushalt eingeplant wurden, sondern nur „im Rahmen von überplanmäßigen Mittelverlagerungen“ zur Verfügung stehen sollten. Aber wer den Stellenwert des Radverkehrs in Dortmund kennt, verkneift sich solche Fragen und sagt einfach: Immerhin.
Und dann passierte das, was in Sachen Radverkehr in Dortmund meistens passiert:
Nichts.
Keine einzige Maßnahme wurde geplant. Und niemandem fiel es auf.
Keine einzige Maßnahme wurde umgesetzt. Und niemandem fiel es auf.
Keine Mittel wurden verlagert. Und niemandem fiel es auf.
Der „bis Ende März 2016“ im AUSW vorzuschlagende Maßnahmenkatalog wurde nicht bis Ende März vorgelegt. Und auch nicht im April. Und nicht im Mai, oder Juni, Juli oder August. Und niemandem fiel es auf. Auch nicht den Grünen, von denen dieser Antrag ja kam.
Irgendwann im September fiel es dann doch noch jemandem auf, und so gaben dann auf Nachfrage der Grünen im AUSW im Oktober die Beigeordneten Ludger Wilde (Umwelt, Planen und Wohnen) und Martin Lürwer (Bauen und Infrastruktur) schriftlich zu Protokoll:
„Hinsichtlich des Verfahrens ist leider festzustellen, dass der konkrete Auftrag aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen seinerzeit weder dem Stadtplanungs- noch dem Tiefbauamt zur entsprechenden Veranlassung zugeleitet wurde, weshalb eine Umsetzung des Auftrages nicht erfolgte. Dies bitten wir zu entschuldigen.“
Nicht zu fassen. Dortmund. Überrascht. Dich.
Weiter schreiben sie:
„Ungeachtet dessen steht die grundsätzliche Förderung des Radverkehrs innerhalb der Verwaltung selbstverständlich ganz oben auf der Agenda.“
Es ist nicht überliefert, ob sie beim Schreiben rot wurden.
In der Sitzung des AUSW vergoss Herr Wilde dann noch einige Krokodilstränen:
Herr Wilde teilt hierauf mit, dass die Verwaltung keineswegs stolz auf diese Angelegenheit, allerdings inzwischen ausreichend dafür sensibilisiert worden sei, so dass die Weitergabe und entsprechende Umsetzung kommender Haushaltbegleitbeschlüsse reibungslos erfolgen werde.
Klar. Kann ja mal passieren, dass der weit überwiegende Teil der kläglichen jährlichen Mittel für den Radverkehr vergessen wird. Kommt bestimmt nicht wieder vor. Dann können wir ja beruhigt sein.
In ihrer Rede zum Haushalt 2017 bringt es Ingrid Reuter (Grüne) auf den Punkt:
„Während die Stadt nach außen den Eindruck vermittelt, als sei beim Thema Radverkehr alles Hui, liegt doch vieles nach wie vor im Argen und beim Pfui.“
Am 8.12.2016 hat der Rat immerhin den Beschluss gefasst, dass die noch nicht umgesetzten Haushaltsbeschlüsse aus 2016 (also auch die Verstärkung der Mittel für die Radverkehrsinfrastruktur) im Jahr 2017 umgesetzt werden. Von einem wirklichen Nachholen kann aber nicht die Rede sein, denn die extreme Unterfinanzierung war ja kein einmaliges Problem des Jahres 2016, sondern sie ist ein dauerhaftes Problem. Nun ersetzen also die Mittel des Jahres 2016 nur die eigentlich in jedem Fall erforderliche Erhöhung für 2017. Statt eines Verstärkungsbetrags von 600.000 für 2017 und eines nachgeholten Verstärkungsbetrags von 600.000 für 2016 werden im Jahr 2017 nur die 600.000 € des Jahres 2016 investiert (zusätzlich zu regulären Beträgen, die 2017 auf 340.000 € steigen). Dem Radverkehr sind durch den Vorgang 600.000 € verloren gegangen. Die Maßnahmenliste für den Verstärkungsbetrag soll Anfang des Jahres vorgelegt werden. Hoffen wir, dass sie nicht wieder vergessen wird…
Also scheinen weder Tiefbau- noch Stadtplanungsamt die 600.000 € gewollt zu haben. Ich will da nie wieder hören, dass man würde, wenn man die Mittel hätte …
Aber du hörst doch: “ […] steht die grundsätzliche Förderung des Radverkehrs innerhalb der Verwaltung selbstverständlich ganz oben auf der Agenda.“ 😉
Mit Dortmund wird das nichts. Ich muss wohl demnächst mal aus Bochum berichten, damit auch mal was Positives dabei ist. Da läuft zwar auch eine ganze Menge gehörig schief (Stichwort Bergstraße oder die Weigerung, völlig ungeeignete Benutzungspflichten aufzuheben), aber immerhin gibt es auch echte Verbesserungen: Werner Hellweg. Bessemerstraße. Asphalt, um Freizeitwege alltagstauglich zu machen, und das alles sogar ganz ohne neue Umlaufsperren…
Hmm, also wurden in 2016 wieviele Euro in entsprechende Maßnahmen investiert? Klingt für mich jetzt wie 0,00Euro. Aber das kann doch nicht sein. Was habe ich überlesen?
Oder es liegt an meinem schleimversuchten Kopf? Ich hab die dritte Erkältung in diesem Jahr, ist auch ein Elend, aber mein ganz alleiniges und da kann keine Stadt etwas für, was sich aber auch als Erfolg verbuchen ließe. 🙂
Ich habs oben auch noch mal umformuliert, damit es klarer wird.
Es gibt einen „regulären Betrag“ (Mittel, die im Hauhalstplan eingeplant sind. Kein einzelner Posten, sondern verschiedene Posten im Haushaltsplan verstreut). Wenn ich da nichts übersehe, sind das 200.000 für 2016 und 340.000 für 2017, also jeweils nur winzige Bruchteile dessen, was der Nationale Radverkehrsplan für die schlechteste Städtekategorie als absolutes Minimum vorsieht.
Da man selbst in Dortmund einsah, dass 200.000 viel zu wenig sind, beschloss man für 2016 eine Aufstockung („Verstärkungsbetrag“) um 600.000 €. Um diesen Verstärkungsbetrag geht es hier. Er wurde komplett vergessen: 0,00 € davon wurden investiert. Die 200.000 regulären Euro wurden aber vermutlich schon investiert. Ergo: 75% der (völlig unzureichenden) Radverkehrsmittel vergessen. Kann halt mal passieren…
Gute Besserung! 🙂
Ich habe nur „Bau von Radwegen 150.000 €“ gefunden, wobei sicherlich hier und da weitere Mittel drin stecken, z. B. beim Personal oder bei „Rad- und Gehwegbrücke Kirchhörder Berg 50.000 €“.
Die 600.000 hätte man z. B. schnell dafür ausgeben können, alle Radweghe (oder so viele, wie das Geld reicht) mit einer ERA-konformen visuellen Abgrenzung zu versehen.
So hab ich gerechnet:
Geh- und Radweg Rüpingsbach 2016: 100.000 2017: 140.000
Rad- und Gehwegbrücke Kirchhörder Berg 2016: 0 2017: 50.000
Sammelposten „Bau von Radwegen“ 2016: 100.000 2017: 150.000
Summe 2016: 200.000 2017: 340.000
Dabei habe ich Mittel für „Geh- und Rad“-Maßnahmen voll dem Radverkehr zugerechnet. So werden eventuelle unberücksichtigte, in anderen Posten enthaltene Mittel für den Radverkehr hoffentlich ausgeglichen. Beispiel: Es gibt in der Faßstraße eine Maßnahme zur Förderung des Kfz-Verkehrs (47 neue Parkplätze). Dabei wird nebenbei auch ein Radfahrstreifen angelegt (vielleicht benutzbar, vielleicht auch nicht), von dem mir nicht klar ist, ob er im Sammelposten Radwegebau enthalten ist.
Wie rechnet denn der Nationale Radverkehrsplan? Aus meiner Sicht gibt es da viele Faktoren, die je nach Auslegung die Summe erhöhen oder senken.
Was ist mit Personal? Und wenn man es einbezieht, zählt auch die Zeit, die sie mit Windmühlen kämpfen?
Was ist mit kontraproduktiven Investitionen (Schutzstreifen) oder sinnlosen Investitionen (Fahrradbügel im Nichts in Dorstfeld dieses Jahr)?
Was ist mit Infrastruktur, die nicht exklusiv vom Fahrrad genutzt wird?
Was ist mit Neubau von Radwegen, wenn der Neubau allein wegen Verbesserungen z. B. des Autoverkehrs nötig sind?
usw. usf.
Klar, das ist immer nur eine grobe Schätzung. Darum ist so eine centgenaue Angabe vielleicht nicht optimal, die erweckt den Eindruck einer Präzision, die nicht gegeben ist. Neben den von dir gennanten Punkten wäre z.B. auch die Frage wichtig, wie man RVR-Mittel berücksichtigt (2016 wohl nur Vorarbeiten zum Gartenstadt-Radweg) und ob und ggf. wie man Maßnahmen der Emschergenossenschaft mitzählt.
Um diese Dinge vergleichbar zu machen, stelle ich mir schon länger vor, dass der Bund einheitliche Standards zur Berechnung der kommunalen Mittel vorgibt und die Ergebnisse jährlich veröffentlicht.
Noch wichtiger wäre die Vorgabe einheitlicher Standards zur Modal-Split-Erhebung mit Veröffentlichung z.B. alle fünf Jahre. Die derzeitige Qualität der Daten macht Vergleiche fast unmöglich.
Mit einheitlichen Mittel-Daten und einheitlichen Modal-Split-Daten könnte man dann im Zeitverlauf sehen, was wirkt.
Der Bund kann die Kommunen zwar zu nichts zwingen, aber mit Fördermitteln (oder dem Benennen der Verweigerer) könnte er schon Anreize zur Teilnahme setzen.
Der Bund erzählt ja immer, dass er Radverkehr total toll finde, er aber leider, leider, leider fast gar nichts tun könne, weil Länder und Kommunen zuständig seien. Solche einheitlichen Standards würden genau in seinen selbstdefinierten Aufgabenbereich „Rahmenbedingungen“ und „Impulsgeber“ fallen: „Die Aufgabe des Bundes ist es, die Rahmenbedingungen für die weitere Entwicklung des Radverkehrs zu schaffen: Er fördert den Radverkehr daher in seiner Zuständigkeit als Gesetzgeber. Mit dem NRVP hat der Bund eine aktive Rolle als Moderator, Koordinator und Impulsgeber für eine bundesweite Radverkehrsförderung übernommen“.
Die Zahlen hätte ich auch gerne zur Verfügung. 🙂 Das wäre spannend.
Einheitliche und regelmäßige Modal-Split-Erhebungen wären schon eine feine Sache. Aktuell müssen die Städte die recht teuren Untersuchungen aber selber bezahlen oder aber selber durchführen, womit dann wieder fraglich ist, wie vergleichbar die Werte sind. Richtig teuer wird es, wenn man detaillierte Daten zu einzelnen Stadtteilen erhalten will. Da gibt es ja sicherlich deutliche Unterschiede, die Informationen wären also eigentlich interessant.
Informationen auf Stadtteilebene wären natürlich ideal. Die schlechte Qualität der derzeit verfügbaren Daten hat mich aber so bescheiden gemacht, dass ich schon sehr froh wäre, wenn man zumindest die Daten verschiedener Städte sinnvoll vergleichen könnte – oder die Daten einer einzelnen Stadt im Zeitverlauf. Beides ist heute nur sehr bedingt möglich.
In welcher Größenordnung liegen die Kosten einer Untersuchung für eine mittelgroße Großstadt?
Die Kosten richten sich nach der Größe der Stadt usw. Die Angebote werden in der Regel pro Stadt berechnet. Ein wohl ganz gutes System bietet die TU Dresden an (https://tu-dresden.de/bu/verkehr/ivs/srv). Je nach geforderter Qualität der Daten geht das bei mittleren Großstädten wohl so ab 40.000 Euro los, wenn man Daten auf Stadtteilebene haben will, landet man aber sehr schnell bei über 100.000 Euro. Da stellt sich schnell die Frage, ob sich diese detaillierten Daten lohnen und was man damit hinterher wirklich anfangen kann.
Danke, das ist wirklich nicht günstig für die Stadtteilebene. Da sind die 40.000 alle paar Jahre mal wohl die bessere Lösung. Wichtig ist halt nur, dass es zumindest im Zeitablauf vergleichbar bleibt, damit nicht so was passiert wie in Dortmund (siehe unten), wo der Rückgang wohl nicht nur auf Untätigkeit, sondern auch auf fehlender Vergleichbarkeit beruht.
Man sollte die Stadt Dortmund mit Anfragen nach dem IFG zupflastern, damit das Geld auch ausgegeben wird. Vielleicht stärkt das das Bewusstsein für einen nachhaltigen Radverkehrsplan.
https://fragdenstaat.de/anfrage/entwicklung-des-radverkehrs/#nachricht-49040
Gruß
NKB
Die Qualität der Antwort passt ins Bild:
„Zum Anteil der Wege, die in Dortmund mit dem Rad zurückgelegt werden, hat das Stadtplanungs- und Bauordnungsamt in den Jahren 2008 und 2013 Haushaltsbefragungen durchgeführt. Die Entwicklung sieht wie folgt aus:“
Und dann kommt ein Bild, nicht mit Werten von 2008, sondern 2005 (klar 2008 wurde ja nix gemessen).
Und auf diesem Bild sind nicht die korrekten Zahlen angegeben (ausführlich hier), sondern nur die für den Alltagsverkehr, weil sie nicht ganz so schlimm aussehen, wie der tatsächliche Rückgang von 9,9 auf 6,4 Prozent.
Natürlich war nicht die Stadt, sondern das Wetter schuld.
Tja, unsere VC-Freunde sind nicht die einzigen, die es mit den Zahlen nicht so genau nehmen 😉
Das macht dann Arbeit und sie werden sagen: „Wegen des ganzen IFG-Anfragen …“.
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Ist aktuell wieder in den politischen Gremien Thema:
https://dosys01.digistadtdo.de/dosys/gremniedweb1.nsf/dosysgremniedweb1.nsf/NiederschriftenWeb/5F8AF18966765912C12580BA004349CE?OpenDocument