Du glaubst nicht, welche Kritik es vor 50 Jahren an der Kommunalen Verkehrspolitik gab.
Im Jahre 1971 schrieben die drei Begründer der Arbeitsstelle für verkehrssoziologische Forschung, Herbert Grymer, Thomas Krämer-Badoni und Marianne Rodenstein exemplarisch über die Kommunale Verkehrspolitik am Beispiel München.
Wie allerdings aus den programmatischen Bekenntnissen zu einer Änderung der Verkehrssituation praktische Verkehrspolitik entstehen soll, ist nicht ersichtlich. Weder wird der Straßenbau eingestellt […], noch wird eine rigorose Sperrung der Innenstadt für den privaten Automobilverkehr ins Auge gefaßt.
Thomas Krämer-Badoni/Herbert Grymer/Marianne Rodenstein 1971: Zur sozioökonomischen Bedeutung des Automobils ; Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 305.
Die Stadt München setzte programmatisch stattdessen auf einen unverzüglichen Ausbau eines leistungsfähigen öffentlichen Nahverkehrs.
Dieser Ausbau und eine minimale Einschränkung des Individualverkehrs im Innenstadtbereich sind die »essentials« der neuen Münchner Verkehrskonzeption.
A. a. O.: 306.
Grundlegend anders sind die Ziele in München auch heute nicht.
[Es] haben alle Maßnahmen zur Verkehrsminderung und zur Verlagerung auf umweltgerechte Verkehrsmittel höchste Priorität. […] – Zur Profilierung des Wirtschaftsraumes München ist die Verbesserung der Verkehrsbedingungen für den Wirtschaftsverkehr unabdingbar. Neben einer sinnvollen Ergänzung des Straßennetzes […] ist auch hier der Ausbau des ÖPNV v.a. für eine Verkehrsverlagerung des nicht notwendigen KFZ-Verkehrs unerlässlich.
Landeshauptstadt München 2006: Verkehrsentwicklungsplan; https://www.muenchen.de/rathaus/dam/jcr:35de0167-b45e-4217-8a7c-83358e247898/vep06_beschluss.pdf, S. 63.
Wenn man im Masterplan nach Einschränkung sucht, stößt man nur auf ein Vorkommen – im Zusammenhang mit alten Menschen (A. a. O.: 55). Vielmehr darf die Förderung von anderen Verkehrsarten den Kfz-Verkehr auch zukünftig nicht weiter einschränken.
Priorisierung des Fußgängerverkehrs in den fußläufigen Einzugsbereichen der Zentren, dort wo dies ohne nennenswerte Beeinträchtigungen des fließenden Kfz-Verkehrs möglich ist.
A. a. O.: 18.
An der Strategie äußerten die drei Wissenschaftler vor fünf Jahrzehnten aber Zweifel.
Da die hier vorgeschlagenen Maßnahmen den privaten PKW-Verkehr nicht rigoros bekämpfen sollen, steht es im Belieben des Autofahrers, ob er auf ein öffentliches Verkehrsmittel »umsteigt« oder nicht. Hinter den Thesen des Stadtentwicklungsreferates steht die Annahme, daß dies kein großes Problem sein wird. Das erscheint uns allerdings als eine zentrale Frage.
Krämer-Badoni et al. 1971: 308.
Zudem kritisieren sie, dass der nicht autofahrende Bürger zugunsten eines ohnehin nicht mehr herzustellenden reibungslosen Verkehrsflusses unter die Straße in Fußgängerunterführungen gedrängt wird.
Gelangen aber erst einmal diese Beschränkungen des nicht autofahrenden Bürgers einerseits und die Begünstigungen des Automobilverkehrs andererseits ins Bewußtsein, dann ist nicht mehr
A. a. O.: 311-312.
einzusehen, welche Attraktivität die Massenverkehrsmittel für
Autofahrer haben sollen. Hier offenbart sich ein Widerspruch in dieser verkehrspolitischen Konzeption. Sie ist entgegen vielen verbalen Äußerungen nur halbherzig auf die Förderung der öffentlichen Verkehrsmittel gerichtet. Der Individualverkehr wird nur noch
so weit bevorzugt behandelt, daß der Autofahrer nicht dazu motiviert wird, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen. Einen stärkeren Druck auf ihn auszuüben, verbieten sich städtische Instanzen wohl auch aus der Überzeugung heraus, daß die freie Wahl des Transportmittels nicht eingeschränkt werden dürfe.
Danke, schönes Fundstück.