Wissenschaftler: Ohne Sichtkontakt zur konkreten Praxis und zu professionellen Möglichkeiten fordert es sich leicht
Diese Woche berichtete ich, über die humoristisch formulierte Kritik, dass sich Politik nicht auf das Denken in Überschriften beschränken darf, was Dennis Radtke als Arschgeweih der Politik präzise eingeordnet hat. Ebenfalls pointiert beschreiben Armin Nassehi und Irmhild Saake in einem Beitrag auf Zeit Online zur Migrationspolitik diese Art der Diskursführung in politik- und sozialwissenschaftlichen Slang:
Es wiederholt sich etwas, das auch in anderen Debatten vorkommt: Irgendeine billige Kapitalismuskritik oder moralische Forderungen zur Energiewende kann fast jeder formulieren, aber nach den konkreten Bedingungen im Maschinenraum der Gesellschaft zu fragen, vermag kaum jemand. Ähnliches zeichnet sich auch in der Diskussion um die KI ab. Am schlagkräftigsten lässt es sich ohne Sichtkontakt zur konkreten Praxis und zu professionellen Möglichkeiten urteilen.
Mit Maschinenraum der Gesellschaft bezeichnen Sie dabei die unsichtbaren, weil erwartbaren Ordnungsleistungen der Gesellschaft, konkret arbeitende Instanzen in allen möglichen Bereichen, in denen unter hohen arbeitsteiligen Bedingungen konkrete Herausforderungen bearbeitet werden.
Die Unordnungsfolgen dagegen sind sichtbar, weil die Unordnung mehr Aufmerksamkeit bekommt als das langweilig Erwartbare. Und genau deshalb findet nur dieser unorganisierte Rest Aufmerksamkeit in der Migrationsdebatte. Übrigens sind sich darin manche Gegner von zu viel Migration und manche Unterstützer von Migration einig: Sie fokussieren sich in ihren Debatten vor allem auf die Unordnungsfolgen, also auf die geradezu negativistische Sichtbarkeit von Migrationsfolgen, nicht aber auf die konkrete Praxis der Gesellschaft. Trachten Migrationskritiker vor allem danach, die negativen Folgen den Migranten selbst zuzurechnen und diese nicht für kompatibel zu halten, reagieren die anderen mit unbedingter Anerkennung und Widerstand gegen die Benennung von Integrationsdefiziten, die in dieser Lesart immer nur auf Anerkennungsprobleme der Gesamtgesellschaft zurückzuführen sind. Das reicht manchmal bis zur Vertuschung von Überforderung und Misserfolg
Übersetzt auf die Verkehrswende oder Radverkehrsförderung meint diese Analyse, dass viele Akteure keinerlei Vorstellungen davon haben, wie in unser arbeitsteiligen Gesellschaft gesellschaftliche Ordnung hergestellt wird und ihre Forderungen nur vertreten können, weil es „sich ohne Sichtkontakt zur konkreten Praxis und zu professionellen Möglichkeiten“ am besten urteilen lässt. Dabei wird keine Aufmerksamkeit auf die Ordnungsleistung gelenkt, also darauf, wie jeden Tag Dinge organisiert und geregelt werden. Trachten Radverkehrsgegner vor allem danach, die negativen Folgen dem Radverkehr selbst zuzurechnen und diesen nicht für kompatibel zu halten, reagieren die anderen mit unbedingter Anerkennung und Widerstand gegen die Benennung von Regelabstinenz mancher Radfahrenden, die in dieser Lesart immer nur auf Anerkennungsprobleme der Gesamtgesellschaft zurückzuführen sind.
Ergänzung 11.08.2025
Ein schönes Beispiel berichtet die Stuttgarter Zeitung. Irgendein Werbungsträger („Influencer“) teilt per TikTok mit, was er so alles machen würde, wenn er OB von Stuttgart wäre. Er würde einfach rund um die Uhr am Bahnhof bauen lassen. Zuständig ist aber gar nicht die Stadt und ich glaube kaum, das da nur Mo-Fr zu üblichen Bürozeiten gearbeitet wird. Als Belohnung gibt es auch noch eine Einladung vom OB.